Am östlichen Rand Nordamerikas, wo der Atlantik zerklüftete Klippen formt und eisige Winde die Seele des Landes prägen, liegt die kanadische Provinz Neufundland und Labrador. Seit Jahrhunderten isoliert und geprägt von Migrationswellen aus Irland, England und Frankreich, ist dies ein Ort, an dem sich Sprache, Musik und Geschichtenerzählen zu etwas Einzigartigem, Beständigem und stark Lokalem entwickelt haben.
Text: Dylan Huxley; Übersetzung: Mike Kamp (with a little help from DeepL)
Nur wenige zeitgenössische Bands verkörpern dieses kulturelle Erbe so eindrucksvoll wie Rum Ragged, eine vierköpfige Formation und eine der wichtigsten Stimmen der traditionellen kanadischen Musik aus der Provinzhauptstadt St. John’s. Das Quartett bietet dabei etwas, das sonst eher selten ist: eine direkte Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den alten Fischerhäfen und Küstenküchen Neufundlands und Labradors und der globalen Folkmusikszene.
Rum Ragged ist nicht einfach nur eine weitere keltisch inspirierte Band aus den atlantischen Provinzen, sondern ein tief in der Region verwurzeltes, dynamisches Ensemble, dessen Mission sowohl die Bewahrung als auch die Wiederbelebung ist – und zwar der jahrhundertealten Musiktraditionen Neufundlands und Labradors, deren Relevanz und Vitalität im 21. Jahrhundert sie gleichzeitig sicherstellen wollen.
Der Sound von Rum Ragged basiert auf dem soliden Fundament der traditionellen Musik der Provinz. Dabei handelt es sich nicht um „Museumsstücke“ – in den Händen der vier wird diese Musik unmittelbar und emotional bewegend, ist voller Witz, Kraft und Wärme.
Das Herzstück der Band bilden der Gitarrist und Sänger Mark Manning und der Akkordeonist und Sänger Aaron Collis, die für ihr ausdrucksstarkes Spiel und ihre fundierten Kenntnisse der Folklore und Geschichte Neufundlands und Labradors bekannt sind. Zu ihnen gesellen sich Zach Nash an Akustikgitarre und Banjo sowie Colin Grant an der Geige – zwei versierte Musiker, die sowohl technische Finesse als auch Bühnencharisma mitbringen. Gemeinsam schaffen sie Musik, die sich wie lebendige Tradition anfühlt, indem sie auf Archivaufnahmen, mündlich überlieferten Geschichten und Liederbüchern zurückgreifen, aber immer auch ihre eigene Perspektive und ihr zeitgenössisches Gespür hinzufügen.
Um Rum Ragged zu verstehen, muss man Neufundland und Labrador verstehen. Die Insel, die zunächst selbstverwaltete Kolonie des Britischen Commonwealth war, schloss sich 1949 Kanada an und hat sich bis heute ihre eigene Identität, ihre Dialekte und Bräuche bewahrt. Das Leben hier ist seit jeher vom Meer geprägt – Fischerei, Schiffbau und Seehandel – sowie von einem starken Gemeinschaftsgefühl in einer oft rauen und isolierten Umgebung. Die daraus erwachsende Widerstandsfähigkeit, der spezielle Humor und Stolz spiegeln sich auch in der Musik wider.
Im Gegensatz zu vielen Folkbands, die Traditionen von außen neu interpretieren, entstammen Rum Ragged genau dieser Tradition. Sie sind in den Gemeinden aufgewachsen, die diese Musik geprägt haben, und sie spielen sie nicht, weil sie gerade in Mode ist, sondern weil sie Teil ihrer Identität ist. Obwohl die Arbeit der Band stark lokal geprägt ist, wird ihr Einfluss zunehmend international. In den letzten Jahren haben Rum Ragged eine treue Fangemeinde in Kanada, Großbritannien und zuletzt auch auf dem europäischen Festland aufgebaut. Ihre Aufnahmen finden nationale Anerkennung und wurden mehrfach für die Juno Awards, die East Coast Music Awards und die Canadian Folk Music Awards nominiert.
Die Musikkritik lobt die Gruppe für ihre Authentizität, ihr technisches Können und ihre Fähigkeit, die Ehrfurcht vor der Vergangenheit mit einem modernen Ansatz in Produktion und Performance in Einklang zu bringen. Das 2020 erschienene Album der Band, The Thing About Fish, wurde für seine konzeptionelle Tiefe und sein starkes Songwriting weithin positiv rezipiert, und der Nachfolger Gone Jiggin‘ machte 2024 eine neue Generation von Zuhörenden mit traditionellen Stücken aus Neufundland und Labrador bekannt, die mit Sorgfalt und Originalität adaptiert wurden. Ihre Liveauftritte kombinieren Geschichtenerzählen, instrumentales Feuerwerk, Harmoniegesang und Publikumsbeteiligung und haben ihnen den Ruf als eine der aufregendsten Folkbands der Gegenwart eingebracht.
„Wenn sie mit Sorgfalt und Überzeugung gespielt wird, kann traditionelle Musik Grenzen überschreiten.“
Im Oktober 2025 traten Rum Ragged im Rahmen einer 24-tägigen Europatournee zum ersten Mal in vielen deutschen Städten auf, was auch deshalb gut funktionierte, weil die Themen ihrer Songs – Liebe, Verlust, Lachen, Not und Feierlichkeiten – universell sind und die herzliche, mitreißende Bühnenpräsenz der Gruppe in aller Regel bleibenden Eindruck hinterlässt. Das Publikum weiß dabei nicht nur die musikalische Handwerkskunst zu honorieren, sondern auch die kulturelle Tiefe des gespielten Materials. Das Engagement der Band für den Kontext ihrer Musik – etwa die Erklärung der Ursprünge und Bedeutungen der Songs – verwandelt jeden Auftritt in einen echten kulturellen Austausch. Für viele Menschen im Publikum ist es ein erster Einblick in die Traditionen Neufundlands und Labradors, einem Teil Kanadas, der auf europäischen Bühnen selten vertreten ist. Für Rum Ragged ist das alles Bestätigung dafür, dass traditionelle Musik, wenn sie mit Sorgfalt und Überzeugung gespielt wird, Grenzen überschreiten kann.
Mit dem wachsenden internationalen Ruf wächst auch der Ehrgeiz des Quartetts. Gerade erscheint ein neues Studioalbum (mit weihnachtlicher Thematik), und für 2026 und darüber hinaus sind weitere Tourneen in Europa, Nordamerika und Australien geplant. Doch egal, wie weit sie reisen, ihr Fokus bleibt unverändert: Sie wollen die Klänge Neufundlands und Labradors am Leben erhalten, durch ehrliche und kraftvolle Musik eine Verbindung zum Publikum herstellen und die Menschen daran erinnern, dass die am stärksten lokal verankerten Songs oft die universellsten sind.
Rum Ragged live zu erleben, bedeutet, in eine andere Kultur einzutauchen – nicht nur in die Klänge Neufundlands und Labradors, sondern auch in deren Geschichten, Kämpfe und Freuden. Da ihre Musik immer mehr neue Fans in ganz Europa findet, wird deutlich, dass sie nicht nur Unterhaltung bieten, sondern auch eindrucksvoll daran erinnern, wie Volksmusik auch ist: persönlich, politisch, poetisch und zutiefst menschlich.
Aktuelle Alben:
Gone Jiggin’ (LHM Records, 2024)
All The Bells And Wassails (LHM Records, 2025)
Zum Autor: Dylan Huxley ist Singer/Songwriter und Musikliebhaber aus Neufundland, der jetzt im Exil in Nova Scotia lebt.







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